· Dresden 2006 - Vom Nihilismus zum Algorithmus ·
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Molekulare Targets für die Therapie myelodysplastischer Syndrome

Autor: Prof. Dr. med. Wolf-Karsten Hofmann, Campus Benjamin-Franklin, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin
Quellenangabe: Deutsches MDS-Forum - Dresden 2006
Stand: 27.11.2006

Die Pathogenese des MDS ist bis heute in vielfacher Hinsicht nicht geklärt. Sieht man von den wenigen Fällen so genannter sekundärer MDS ab, die durch die langanhaltende Exposition des betroffenen Patienten zu benzolhaltigen chemischen Stoffen bedingt sein können (Tankstelleninhaber, Flughafenarbeiter auf dem Rollfeld, Maler/Tapezierer, Drucker), kann eine Ursache der Erkrankung in über 90 Prozent der Fälle nicht festgestellt werden. Zwei grundlegende Theorien für die Entstehung der primären Formen des MDS werden heute angenommen:

  1. Modell der kompletten klonalen Hämatopoese: Ähnlich wie bei der akuten Leukämie wird davon ausgegangen, dass das Knochenmark komplett von Zellen eines malignen Klones eingenommen wird. Aus noch ungeklärten Gründen besteht weiterhin eine teilweise Blutbildung, die vorhandenen reifen hämatopoetischen Zellen weisen jedoch strukturelle und funktionelle Defekte auf.
  2. Modell der Expansion eines malignen Klones neben normaler Hämatopoese: Dieses Modell nimmt an, dass sich Zellen des malignen Klones allmählich neben der normalen Blutbildung etablieren. Es kommt zu einer zunehmenden Verdrängung der normalen Hämatopoese, gleichzeitig wird die Proliferation und Differenzierung der polyklonalen Zellen durch inhibitorische Zytokine (Tumor Nekrose Faktor alpha - TNF-alpha) gehemmt. Die bestehende Restblutbildung kann über Jahre hinweg funktionieren, bis es zur Expansion des malignen Klones und damit zur Verdrängung der normalen Blutbildung kommt.

Der Funktionsverlust von bekannten oder möglichen Tumorsuppressorgenen spielt eine zentrale Rolle bei der Suche nach der Ursache für die Entwicklung des MDS. Die Häufigkeit chromosomaler Veränderungen von 30-40 Prozent und eine Vielzahl von Deletionen und Chromosomenverlusten weist darauf hin, dass neben dem Verlust eines Allels eines Tumorsuppressorgens Veränderungen am anderen Allel, zum Beispiel durch Mutationen oder Methylierung, zu einer verminderten oder fehlenden Expression dieses Gens führen. Es handelt sich dabei um die klassische "Knudson´s two hit theory" der Inaktivierung beider Allele eines Tumorsupressorgens.

Eine besondere Bedeutung bei der Tumorentstehung kommt den Zellzykluskontrollgenen p14ARF, p15INK4b, p16INK4a und RB1 zu. Diese Gene kodieren Proteine, welche die für das Durchlaufen des Zellzyklus essenziellen Cyclin-abhängigen Kinasen ("Cyclin Dependent Kinase" - CDK) hemmen und somit die Progression des Zellzyklus steuern. Eine Störung im Bereich dieser Gene hätte die unkontrollierte Beschleunigung des Zellzyklus und damit eine ungehemmte Zellproliferation, wie man sie bei Tumorzellen beobachtet, zur Folge. Seit bekannt ist, dass die chromosomale Region 9p21 bei Tumoren, insbesondere aber bei malignen hämatologischen Erkrankungen besonders häufig von Deletionen bzw. chromosomalen Rearrangements betroffen ist und beschrieben ist, dass das Gen für den CDK-Inhibitor p16INK4a in dieser Region lokalisiert ist, war die Gruppe dieser Zellzykluskontrollgene oft Gegenstand von Untersuchungen bei verschiedenen Tumoren. Es ist anzunehmen, dass der verminderten Expression dieser Gene, die durch verschiedene Mechanismen bedingt sein kann (Mutationen, Deletionen, Methylierung), eine Rolle in der Pathophysiologie hämatologischer Erkrankungen zukommt.

Außer den genannten Zellzykluskontrollgenen haben die so genannten "Checkpointproteine" bzw. "Mismatchrepairproteine" eine Bedeutung für die Tumorentstehung. Die physiologische Funktion dieser Proteine ist es, die im Rahmen der Zellteilung bei der DNA-Synthese und chromosomalen Organisation der DNA auftretenden Fehler zu erkennen und zu beseitigen, um eine fehlerfreie DNA-Replikation zu gewährleisten. In den letzten Jahren sind die Gene für eine Reihe solcher Proteine gefunden und deren Funktion beschrieben worden. Gleichzeitig wurde begonnen, nach Störungen in diesen Kontrollmechanismen zu suchen (Genmutationen, Methylierung und damit fehlende Expression). Wichtige Mitglieder der Familie der "Checkpointgene" bzw. der "Mismatchrepairgene" sind das mitotische Checkpointgen CHK2 (Homolog zu CDS1 und RAD53) und das Mismatchrepairgen MGMT.

CHK2 besitzt eine 60 Aminosäuren lange so genannte "Fork Head Associated" (FHA) Domäne, welche innerhalb der RAD53/CDS1 Kinasenfamilie hoch konserviert und verantwortlich für die Aktivierung des Gens in Antwort auf Schädigung der DNA bei der Zellteilung ist. CHK2 stabilisiert p53 durch Phosphorylierung und Dissoziation von Komplexen, die aus p53 und MDM2 (ein Protein, das p53 degradieren kann), entstehen. Zellen von CHK2-defizienten Mäusen sind nicht in der Lage, nach Exposition zu radioaktiver Strahlung in der G2-Phase zu verharren. Die Induktion p53-abhängiger Gentranskription (zum Beispiel von p21) ist in diesen Zellen nicht möglich, allerdings kann durch Reintroduktion von CHK2 diese gestörte p53 Funktion wieder hergestellt werden. CHK2 kann weiterhin direkt CDC25C, ein Protein, das den Zellzykluskontrollkomplex aus CDC2/Cyclin B aktiviert, phosphorylieren. Alle diese Befunde unterstreichen die Aufgabe von CHK2, im Falle eines DNA-Schadens die betroffene Zelle vor dem Eintritt in die Mitose zu bewahren. Mutationen von CHK2 wurden kürzlich beim MDS gefunden.

Eine dritte Gruppe von bedeutsamen Proteinen für die Proliferation und Differenzierung eukaryotischer Zellen stellen Transkriptionsfaktoren dar. Transkriptionsfaktoren sind von essenzieller Bedeutung bei der Steuerung der Proliferation und Differenzierung hämatopoetischer Progenitorzellen. Eine herausragende Rolle bei der myeloischen Differenzierung spielen Faktoren, die zur Familie der CCAAT "enhancer-binding proteins" (C/EBP) gehören (C/EBPalpha-delta, GADD153). Diese Proteine werden vor allem in humanen myeloischen Zellen exprimiert, und zwar auf einem vergleichsweise höheren Niveau als in Lymphozyten oder erythropoetischen Zellen. Die C/EBP aktivieren Promotoren verschiedener Zytokine wie IL-1-beta, IL-6, TNF-alpha, G-CSF, M-CSF, GM-CSF (alpha-Kette), die bei der myeloischen Differenzierung eine Rolle spielen. Für die physiologische Entwicklung hämatopoetischer Zellen ist ein reibungsloses Zusammenwirken dieser Faktoren erforderlich. Die Störung eines dieser Faktoren, zum Beipiel durch Mutationen in funktionellen Domänen des Proteins und Verhinderung/Blockade der Bindung des Transkriptionsfaktors an die DNA-Bindungsstelle des zu transkribierenden Gens könnte eine Ursache für die fehlende Differenzierung von myeloischen Zellen beim MDS sein.

In Zukunft wird die Technik der Genexpressionsanalyse mit Mikroarrays dazu beitragen, neue Erkenntnisse hinsichtlich der Pathogenese des MDS zu gewinnen. Ein weiteres Potenzial dieses Ansatzes ist es, möglicherweise neue molekulare Risikogruppen beim MDS zu definieren, die insbesondere mit prognostischer Bedeutung den Therapiealgorithmus für diese Erkrankung beeinflussen können.



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